Unsicherheiten

Ich bin einunddreissig, weiblich, grünblaue Augen, durchschnittlich gross. Seit zehn Monaten und vier Tagen mit meinem Freund zusammen, den ich sehr liebe. Ich will Rettungssanitäterin werden und glaube, dass ich das sehr gut machen werde.

Das war’s dann aber auch. Das ist alles, was ich über mich weiss. Eigentlich gar nicht so wenig, könnte man meinen. Immerhin einige grössere Fragen, die geklärt sind. Aber da sind noch so viele Andere. Kleine, manchmal mittlere, bisweilen auch bloss winzige Fragmente von Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Und die summieren sich. Verbinden sich zu einem riesigen Ganzen, einem Netz aus Fragezeichen, das mich immer mal wieder in die Tiefe reisst, und jetzt ganz besonders.
Ausgelöst durch einen Streit – oder sowas ähnliches – mit meinem Freund. Ich weiss eigentlich gar nicht, warum, ich verstehe es nicht, weiss nur, dass es wehtut, mich überfordert, mir Angst macht, ich es gerne klären würde, er aber Zeit für sich möchte. Es ist die erste Nacht seit über neun Monaten, die wir nicht zusammen verbringen, obwohl wir beide zu Hause sind. Ein Teil von mir rennt seit Stunden mit Anlauf gegen eine Wand aus Panik. Panik, ihn zu verlieren und nicht einmal zu wissen, weshalb. Aber ich möchte nicht darüber schreiben, was zwischen uns ist. Weil das eben zwischen uns ist, und ich finde, dort soll es bleiben. Ausserdem habe ich mir bereits den ganzen Tag den Kopf zerbrochen, und es hat mich nicht weiter gebracht. Nur immer wieder zum Weinen. Würde ich jetzt wahrscheinlich auch, aber ich habe keine Tränen mehr. Ich würde gerne reden, er gerade nicht, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als sein Bedürfnis für den Moment zu respektieren (radikale Akzeptanz ist ein Arschloch. Übrigens). Vielleicht hat es ja auch was Gutes (positiv Denken ist auch ein Arschloch. Übrigens).
Jedenfalls versuche ich gerade, herauszufinden, was die Situation mit mir macht. Also ausser der Panik. Wo mein Anteil ist. Und dabei bin ich bei Unsicherheit gelandet. Unsicherheit in Bezug auf mich selbst. Ganz oft treffe ich Entscheidungen, indem ich mir (auch) überlege, was andere Menschen, mein Freund ganz besonders, davon halten könnten. Banale Dinge. Ziehe ich Hose x oder Hose y an? Welche gefällt meinem Freund wohl besser? Kann ich mit Chucks zur Arbeit oder wirkt das zu jugendlich für mein Alter (Anmerkung der Redaktion: Ich arbeite in einem Motorradgeschäft, wo es diesbezüglich absolut keinen Dresscode gibt – ich kann also, wenn ich will)? Interessiert mich Politik wirklich oder nur deshalb, weil das gut ankommt? Weil man sich doch informieren muss?
Und so weiter. Fakt ist (trauriger Fakt!): Ich schäme mich für vieles, was wohl irgendwie zu mir gehört. Und lasse mich zu sehr beeinflussen. Beispiele gefällig?
Wenn Besuch kommt (was selten ist), müssen die Stofftiere vom Bett in den Schrank umziehen. Wenn ich Der Club der roten Bänder geschaut und dabei geheult habe, bleibt das mein Geheimnis. Eigentlich weiss niemand, dass ich die Serie überhaupt schaue. Ist ja schliesslich eine Jugendserie. Macht man nicht als Erwachsene.
Die Liste ist lang. Viel zu lang. Und ich glaube, das ist ein bisschen das, was meinen Freund beunruhigt: dass ich so viele Heimlichkeiten habe. Zwar hat er nicht diese Dinge angesprochen, aber ich kann mir vorstellen, dass es diese Dinge sind, die er spürt. Die ihn verunsichern, auch wenn seine Unsicherheit in eine andere Richtung geht. Sie ist eben doch da, und sie ist, auf irgendeine Weise ‚berechtigt‘. Da gibt’s noch was ‚Grösseres‘, was ich ihm quasi verheimliche: Tätowierungspläne. Er weiss zwar, dass ich mit dem Gedanken spiele, meine Narben colorieren zu lassen (und das recht grossflächig). Findet er auch gut. Aber ich habe – höchstens halbbewusst – nie darüber gesprochen, dass ich mittlerweile weiss, was ich möchte. Und von wem. Dass es mir ganz schön wichtig ist. Dass ich eigentlich nur noch Geld und Mut ansammlen muss und dann eine Terminanfrage wagen will.
Warum? Nicht, weil er was gegen Tätowierungen hätte. Gar nicht, er hat selbst auch welche. Sondern weil ich irgendwo in mir drin gespürt habe, dass ich diesbezüglich keine Meinung will. Gar keine, und seine wohl besonders nicht. Gerade weil sie mir so wichtig wäre. Weil ich nicht weiss, ob ihm gefällt, was ich plane, und weil ich in mir drin so verdammt unsicher bin, dass ich Angst habe, alles über den Haufen zu werfen, wenn er meine Begeisterung für die Idee nicht teilt. Das liegt nicht an ihm. Ich habe ihm vor einem halben Jahr mal Bilder geschickt von Tattoos, die mir gefallen (damals noch gar nicht spruchreif, ich hatte nur Nachtdienst und mir war langweilig). Er konnte damit nichts anfangen. Und meinte wörtlich es darf mir ja auch nicht gefallen. Ist deine Haut. Schön bist du so oder so. Ich zweifle nicht daran, dass er mich auch lieben würde, wenn ich Bilder auf dem Arm hätte, die er nicht mag. Ich befürchte auch nicht, dass er mich verlässt, wenn ich die zerissene Jeans anziehe, die ihm nicht gefällt. Er sagt zwar, was ihm gefällt und was eher nicht (und hat einen wirklich guten Geschmack), aber er sagt es auf eine absolut gute Art, die weder verletztend noch abwertend ist. Das Problem ist in meinem eigenen Kopf. Ich weiss dann nämlich nicht mehr, ob mir selbst noch gefällt, was ich gerade trage, sage, tue, denke. Besagte Jeans ist das beste Beispiel. Ich mochte das Ding, solange, wie ich unter Menschen war, die fanden, es sähe gut aus. Dann trafen die Hose und mein Freund aufeinander und verstanden sich nicht besonders. Da wollte einfach keine Zuneigung entstehen. Und seither frage ich mich bei jedem Blick in den Schrank, ob ich nicht doch ein wenig zu alt für sowas bin, ob ich mich überhaupt noch wohlfühle damit, ob das überhaupt ich bin, ob das zu mir passt. Ob ich die Hose nicht (mehr) mag oder eher den Gedanken, dass jemand anderer sie nicht mögen könnte.

Das ist leider nicht nur mit Jeans so. Sondern mit so ziemlich allem. Um ehrlich zu sein, ich weiss nicht mal, ob ich so sicher hinter meinem Berufswunsch stehen könnte, wenn mein Freund oder sonst irgendwer, der mir sehr wichtig ist, das für Schwachsinn hielte. Ich fühle mich in mir selbst gerade so unsicher, dass ich ohne positive Bestärkung von aussen unter der Last jeder Entscheidung in mir zusammenfiele wie verbranntes Papier, das von der Feuerwehr gelöscht wird (mit einer 75er Leitung und dem gelben Hohlstrahlrohr, wenn es jemand genau wissen will). Klingt entsetzlich nach Abhängigkeit. Und ist vielleicht auch ein bisschen übertrieben. Ich bin heute enorm empfindlich, weil der Streit mit meinem Freund mich sehr belastet. Aber grundsätzlich stimmt es leider. Ich wage zu behaupten, dass ihn das ebenfalls verunsichert. Auch wenn es in eine ganz andere Richtung geht, als er wohl vermutet, grundsätzlich hat er recht: Ich habe einige Heimlichkeiten. Keine, die ihn direkt betreffen. Keine, die mit meinen Gefühlen für ihn zu tun haben. Die Liebe zu ihm ist wohl das Einzige, wobei ich mir wirklich sicher bin. Aber eben doch ein paar. Ein paar viele und ein paar zu viel.
Und ich habe wahnsinnige Angst, ihn deswegen zu verlieren. Dabei sollte ich viel mehr Angst davor haben, mich selbst zu verlieren.

Ich glaube, ich brauche Hilfe.

10 Antworten auf “Unsicherheiten”

  1. Wenn ich das so lese, denke ich „Ich wünschte, ich könnte jemanden lieben“. Das ist doch die Hauptsache. Du machst dir so viele unsinnige Sorgen und Gedanken, die nur unnötig Kraft rauben. Vielleicht brauchst du Hilfe in der Hinsicht um herauszufinden, weshalb du das tust. LG!

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    1. Wenn es denn so einfach wäre. Ja, ich kann wieder jemanden lieben, und das ist wunderbar. Aber damit sind nun mal auch Schmerzen, Ängste und Sorgen verbunden, das gehört dazu. Ich weiss schon, warum ich all das sehr viel intensiver wahrnehme. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht darum, dass ich trotz der Liebe unsicher bin. Und das ist kein schönes Gefühl.

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  2. Liebe elin. Ich kann dich nachvollziehen. Ich lebte nur so wie andere es für richtig fanden. Darüber habe ich dann verlernt so zu leben, wie ich es für richtig halte. Ich habe mich mühsam auf die Suche gemacht. Was mag ich. Wer bin ich. Was macht mich aus und überhaupt. Noch immer ist die Meinung anderer wichtiger als meine eigene. Und meine Wahrnehmung generell falsch. Ich glaube du solltest deinem Freund sagen wie du fühlst und warum du so viel verheimlichen musst. Vielleicht sit es anders Zeit sich zu fragen wer du bist. Ich habe damals mich mit dem Thema Authentizität beschäftigt. Ujd ja den Meyers Briggs persönlichkeitstesr gemacht. Ist schräg. Doch wenn man sich selbst mehr versteht und kennt. Weiß man auch mehr was man eigentlich will. Und dann kannst du zu dem stehen,was du willst. Ich mag zum Beispiel am liebsten zimteis. Dazu stehe ich. LG Alice

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    1. Liebe Alice
      Vielen Dank für deine Worte. Es tut gut, nicht allein zu sein mit dem ganzen Identiätschaos. Dass ich vor lauter fremder Meinungen nicht mehr weiss, was ich eigentlich selbst will, trifft es sehr gut. So langsam dämmert es mir, dass das auch mit meiner Verlustangst zu tun hat; ich bin in mir selbst so unsicher, dass ich überzeugt davon bin, dass Menschen mich verlassen, sobald ich zeige, wie ich wirklich bin, also verstecke ich mich lieber so lange und nehme andere Meinungen an, bis ich mich selbst nicht mehr finde. Irgendwie so. Das ist alles gerade ein bisschen viel. Aber ich bleibe dran.
      Zimteis ist übrigens echt geil:).

      Alles Liebe
      Eliín

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  3. Ich kann total gut verstehen, was du hier beschreibst – genau mit diesen Gedanken kämpfe ich in meiner Beziehung auch immer wieder…eben genau wie du sagst, von „banalen“ Dingen wie Kleidungsstücken bis hin zu den ganz großen Fingen…ich wünsch euch beiden, dass ihr einen guten Weg findet, damit umzugehen und dass du deinem Gespür bald wieder etwas besser vertrauen kannst – schließlich ist sowas nach einem Streit ganz besonders verunsichernd…

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    1. Wie schön, von dir zu lesen, liebe Nina!

      Tja, Beziehungen… Das ist sowas von kompliziert, wenn die innere Uhr auf borderlinisch tickt. Wahrscheinlich auch sonst, aber das weiss ich ja nicht.
      Das Problem ist gar nicht so sehr, dass ich meinem Gespür nicht vertrauen würde; ich spüre nur sehr oft gar nicht, was das Gespür eigentlich sagen wollte. Da kommen dann Fragen auf wie „gefällt mir xy oder gefällt mir die Vorstellung, dass xy den Anderen gefällt?“. Das ist total absurd und nicht sehr identitätsfördernd, aber ich weiss noch nicht, wie ich da wieder rauskomme. Es war nicht immer so extrem. Hmm.
      Vielleicht ist es auch gerade der falsche Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Ich bin wirklich extrem verletztlich nach diesem Streit, vor allem, weil die Klärung noch fehlt. Aber das wird schon wieder:).

      Alles Liebe
      Elín

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      1. Gleichfalls 🙂

        Weißt du, ich glaube, wir dürfen auch ein bisschen stolz drauf sein, dass wir mitsamt Borderline Beziehungen hinkriegen, die im Großen und Ganzen recht vernünftig wirken – grade weil das oft so schwierig ist, aber das nur am Rande…
        Ich weiß genau was du meinst und kann mir so gut vorstellen, dass das grade nach so einem Streit noch tausendmal mehr verunsichert als sonst und man dann gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht. Und auch, wenn’s nicht der ideale Zeitpunkt ist, darüber nachzudenken, kann zumindest ich in so einem Fall dann auch nicht damit aufhören (falls du da einen Trick hast, immer her damit ;)).
        Na jedenfalls halte ich weiter Daumen, dass ihr schnell klären könnt, was zu klären ist und du dann die Ruhe findest, die du zum Nachdenken brauchst.
        Pass weiter auf dich auf, ja?

        Nina

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  4. Das eigene Selbst immer wieder in Frage stellen- das haben wir nun mal gut drauf. Wenn wir von einem Extrem ins andere stürzen, dann besonders. Ich kann dir aber eins sagen: diese kleinen Fragen und Unsicherheiten, die sich sehr schnell summieren, machen dich sehr sympathisch! Und ich bin mir sicher, dass er dich auch mit deinen kleinen Heimlichkeiten lieben wird, auch wenn diese Vorstellung unvorstellbar scheint. Ich befinde mich derweil auch in diesem Prozess. Muss mir immer wieder entgegenkommen und mich fragen, ob ich die Dinge wirklich für mich tue oder um anderen zu gefallen. Rutsche manchmal auch aus und finde Ausreden, die ich mir erzählen könnte. Ich habe mich ein paar Wochen beobachtet und mir notiert, wie und ob ich meinen Bedürfnissen gerecht werde. Ich habe sehr viele neue Erkenntnisse mitnehmen dürfen. Dies wünsche ich dir auch und, dass du deine Interessen und Bedürfnisse ohne Ängste leben kannst. Do it! 😉 und jetzt hast du mich ein wenig getriggert. Habe schon wieder wahnsinnig Lust auf ein neues Tattoo, obwohl das neue nicht mal zwei Monate alt ist.. Ich wünsche dir ganz viel Mut! Lieben Gruß. E.

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    1. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass es mir nicht leid tut, dass ich jemanden triggere;)… Tattoos machen halt süchtig. Und ausserdem habe ich mit der Selbstverletzung jetzt wirklich abgeschlossen, und da wird es Zeit, dass die Narben in den Hintergrund rücken (wortwörtlich). Nicht, dass sie mich stören würden oder ich ein Problem hätte, wenn man sie sieht. Das ist okay, selbst wenn man mich darauf anspricht. Ich möchte nur für mich damit abschliessen.
      So. Und zum Rest: DANKE. Für deine Worte, fürs Verständnis und für die gute Idee mit den Notizen. Ich glaube, das werde ich ausprobieren. Schreiben fällt mir ja eh leicht, und ich kann mir gut vorstellen, dass ich besser darauf achte, wenn ich weiss, dass da ein Notizbuch auf mich wartet. Die Achtsamkeit diesbezüglich wäre ja schon ein erster Schritt; merken, was überhaupt MEINE Bedürfnisse sind. Das erfüllen kommt dann später, einen Schritt nach dem Anderen.
      Danke nochmal. Immer wieder schön, von dir zu lesen.
      Alles Liebe
      Elín

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  5. “Ich möchte nur für mich damit abschliessen“. <– genau das! und wenn du dieses “für mich“ in allen anderen Bereichen auch immer öfter einsetzt, dann wirst du dich neu entdecken und bereits gelebte Bedürfnisse werden sich festigen. Sogar deine Beziehung 🙂 Ich habs zum Teil auch fotografiert. Mein Therapeut gab mir mal die Aufgabe. Ich sollte shoppen gehen und mir zwei Outfits raus suchen. Eins was zum “privaten Ich“ passt und eins zum “kreativen“ (andere Nennungen möglich). Ich war verblüfft was für Sachen ich mir raus gesucht habe, ohne darauf zu achten, ob ich darin dünn oder schön aussehe. Das sind nämlich oft meine ersten Impulse gefolgt von: “was werden wohl die anderen denken, wenn sie mich so sehen?“. Daraus folgten und entwickelten sich neue Leidenschaften, die mein privates Ich wachsen lassen. So nähern sich die beiden immer mehr an. Ein kleiner Tipp von mir am Rande: Das Werden nicht zu schnell und impulsiv in das Sein integrieren. Ansonsten könnten Kommentare wie:“ Auf was für einem Trip ist die Alte schon wieder?“ zur Verunsicherung führen. Ansonsten gerne mit: “auf MEINEM!“ antworten 🙂

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