Angelastet

Fast ein Jahr seit dem letzten Beitrag, und ich hatte eigentlich gar nicht vor, das so bald zu ändern, weil sich stattdessen so sehr geändert hat, dass es sich manchmal seltsam fremd anfühlt, die alten Gedanken zu lesen.

Aber jetzt passieren Dinge, die es mir unmöglich machen, mit diesen alten Gedanken tatsächlich abzuschliessen.
Damit das nicht dramatischer klingt, als es ist: Es geht mir eigentlich gut. Ich bin verliebt, gerade mit meinem Partner zusammengezogen, das Studium läuft gut, den Pferden geht es gut, alles ist gut.
Wenn da nicht die Sorge wäre. Die Angst. Die Ohnmacht. Und die Tatsache, dass mir meine Vergangenheit und der offene Umgang damit vorgeworfen werden.

Dies hier wird also kein gewöhnlicher Beitrag. Sondern ein offenere Brief. Denn die Person, die mich – ohne mich zu kennen – für so unerträglich hält, liest hier mit und versucht, diese Inhalte sogar vor Gericht gegen mich zu verwenden. Und vor ihren Kindern, die ich im Übrigen sehr mag.
Nun denn.

An Frau S.

Wissen Sie, ich kann verstehen, dass Sie mich nicht mögen. Wirklich. Wahrscheinlich wäre ich, wären die Rollen vertauscht, auch nicht besonders gut auf Sie zu sprechen.
Das ist schon okay. Damit kann ich leben, und ich nehme Ihnen das nicht übel.
Aber ich nehme Ihnen übel, dass Sie versuchen, meine Vergangenheit, mein ganzes Leben eigentlich, durch den Dreck zu ziehen, ohne mich zu kennen. Ich nehme Ihnen übel, dass Sie Lügen über mich verbreiten und anderen erzählen, ich hätte noch immer eine Essstörung. Sie haben mich doch ausgiebig im Internet gesucht; hätten Sie sich ein bisschen mehr Mühe gegeben, wüssten Sie, dass diese Zeit längst vorbei ist. Seit über sieben Jahren schon. Dass ich mich längst nicht mehr selbst verletze und auch nicht mehr sterben will.
Diese Zeiten gab es. Daraus mache ich kein Geheimnis und dafür rechtfertige ich ich auch nicht. Ich habe nichts falsch gemacht, ich war nur krank. Und dazu stehe ich. Weil ich es so unheimlich wichtig finde, darüber zu sprechen. Zum Thema zu machen, was viel zu oft totgeschwiegen wird. Denn warum sollte ich mich dafür schämen? Würden Sie sich für einen Beinbruch schämen? Würden Sie vor Gericht behaupten, ich sei kein Umgang für Ihre Kinder, weil ich Corona hatte und die Schweinegrippe damals auch? Nein? Warum soll ich dann eine Gefahr darstellen, weil ich eine psychische Erkrankung durchgemacht habe? Seelische Erkrankungen sind nicht ansteckend, keine Sorge. Ihre Kinder werden nicht bulimisch oder anorektisch, weil ich es einmal war, und sie werden sich auch nicht selbst verletzen, weil ich meine Narben (die längst verheilt sind) nicht verstecke. Sie werden keinen Suizidversuch unternehmen, weil ich es vor langer Zeit getan habe und sie werden auch nicht an Borderline erkranken, weil ich die Diagnose vor fast acht Jahren gekriegt habe. Aber sie werden vielleicht, wenn es ihnen selbst nicht gut geht, den Mut finden, darüber zu sprechen, wenn sie sehen, dass andere Menschen es auch tun.
Psychische Erkrankungen sind ich ansteckend. Aber der Wille, die Stärke und der Mut, dagegen zu kämpfen und trotzdem zu leben, sind es schon.

Ich habe und hatte nie vor, Ihnen Ihre Kinder in irgendeiner Weise wegzunehmen oder sie zu entfremden. Im Gegenteil. Ich wünsche den beiden nichts mehr, als dass sie von beiden Eltern geliebt, geschätzt, respektiert und angenommen werden, wie sie sind. Zwei wunderbare, aufgeweckte, intelligente, liebenswerte, humorvolle und empathische junge Menschen, die nur das Beste verdienen. Liebe nämlich. Freude. Glück. Hoffnung und Träume. Und Menschen, die für sie da sind. Ihre Eltern natürlich, aber auch Menschen, denen sie sonst noch vertrauen. Bei denen sie sich auch sicher fühlen. Und ich bin stolz darauf, ein solcher Mensch für die beiden zu sein, obwohl ich verstehen könnte, wenn sie mir die Schuld an all den Konflikten gäben. Aber das tun sie nicht.
Stattdessen fragen sie mich, wenn sie etwas wissen möchten. Ganz offen und ganz normal. Und ich gebe ihnen Antwort. Nicht bis ins letzte Detail und nicht so, dass es sie belasten würde, keine Angst. Aber ich möchte sie auch nicht belügen. Ich möchte, dass sie wissen, dass sie fragen dürfen. Und dass ich zu dem stehe, was früher war.
Sie haben ganz tolle Kinder, Frau S.! Und ich schätze mich glücklich, dass wir uns so gut verstehen – aber ich hatte nie das Ziel, sie Ihnen zu entfremden. Das, was bei Ihnen zu Hause schief läuft, ist nicht meine Schuld. Auch wenn ich verstehe, dass es für Sie leichter zu ertragen wäre, wenn es eine Schuldige von aussen gäbe.

Wissen Sie, ich wollte nie eigene Kinder. Die Gründe gehen das Internet nichts an, aber es ist ganz sicher nicht mein Ziel, mich in eine Familie einzumischen. Nur, wenn Menschen, die mir wichtig sind, sich an mich wenden und mich um Hilfe bitten, weil sie das woanders nicht können oder vielleicht auch, weil sie wissen, dass ich mich mit dem, was sie belastet, auskenne, weise ich sie nicht ab. Und das werde ich auch in Zukunft nicht tun. Solange Ihre Kinder das möchten, bin ich für sie da. Nicht, weil ich Sie ersetzen wollte. Das kann und möchte ich nicht. Aber ich kann und möchte zusätzlich da sein.
Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie irgendwann der Mensch sein können, an den sich Ihre Kinder wenden, wenn sie sich nicht wohlfühlen. Aber ich denke auch, dass das ohne Hilfe nicht mehr so leicht möglich sein wird. Dass Sie lernen müssen, zuzuhören und die eigenen Verletzungen so zu verarbeiten, dass sie Ihnen nicht mehr im Weg stehen. Dass Sie auf sich achten müssen, anstatt um sich zu schlagen. Denn auch wenn ich wahrscheinlich so ungefähr der letzte Mensch bin, von dem Sie Rat annehmen würden, rate ich Ihnen dennoch etwas: Verschwenden Sie Ihre Energie nicht mit Rache. Setzen Sie Ihre Kraft für diejenigen ein, die Sie brauchen. Die auf Sie angewiesen sind.

Vielleicht denken Sie, das Problem wäre gelöst, wenn Sie mich nur genug anschwärzen, lange genug schlecht reden und angestrengt genug versuchen, mich zu diskreditieren. Aber das wird nicht funktionieren. Sie können meinetwegen meinen gesamten Blog ausdrucken oder mein Buch auswendig lernen – ich stehe zu dem, was war und auch zu dem, was ich bin.
Denn das, was ich erlebt habe, hat mich zwar verletzlich gemacht, vorsichtig, misstrauisch und zurückhaltend gegenüber Menschen. Aber dass ich es überstanden habe, hat mich auch stärker gemacht, als ich es je für möglich gehalten hätte. Und ich lasse mich nicht kleinkriegen. Von niemandem. Nicht durch Lügen, nicht durch Drohungen, nicht durch Diskreditierungen.

So. Da das nun geklärt wäre, noch ein paar abschliessende, allgemeine Worte.
Der Kampf macht müde. Ein Kampf, den ich nie habe kämpfen wollen und der nicht meiner sein sollte. Der aber meiner geworden ist, weil ich, ohne es in irgendeiner Weise forciert zu haben, mit hineingezogen worden bin.
Und nun wird mir angelastet, was war. Und dass ich offen darüber spreche. Aber das wird mich erst recht nicht zum Schweigen bringen. Im Gegenteil. Denn was mir jetzt passiert, ist nur ein Beispiel für die unzähligen Verurteilungen und Vorurteile, die im Alltag von so vielen Betroffenen noch immer erschreckend häufig vorkommen.
Uns wird angelastet, was wir durchgestanden haben oder gerade durchstehen. Als wären wir selbst daran Schuld und eine ansteckende Gefahr für andere. Als müsste man uns isolieren. Aber dann wäre die Welt verdammt leer – denn es betrifft so viel mehr Menschen, als man denkt.


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